PERSONAL STRUGGLES: This is the Soundtrack of my Life 16 – 30

Für unser drittes Buch „#nichtgesellschaftsfähig – Musik, Psyche, Identität und Gesellschaft“ baten wir unsere Autor:innen und Interviewpartner:innen, uns zu ihren jeweiligen Beiträgen gerne noch eine kleine „Soundtrack of my Life“-Liste zum Abdruck mitzuschicken, da wir es immer interessant finden, welche Musik, welche Texte und welche Töne Menschen prägt. Manche schrieben ein paar persönliche Worte oder auch längere Absätze zu den einzelnen Liedern, manche gaben uns nur eine knappe Liste mit dem Namen des Liedes und den Interpreten – was auch völlig cool ist, eben Platz für Interpretationen.

Als es schließlich darum ging, unser Buch rund zu bekommen, suchten wir noch nach einer Klammer, die unsere Inhalte zusammenhalten würde, damit uns so eine vielfältige, in alle Richtung sprühende Publikation nicht um die Ohren fliegt. Als Eingang hatten wir bereits unser Geleitwort und den (sehr geilen) Text von Michael Kraske, aber hinten fehlte noch etwas. Ein Abschluss, der uns selbst mit einbrachte, damit klar war, wir sind nicht nur Zaungäste, Voyeure oder Beobachtende, sondern selbst Teil der Handlung. Also stellte ich meine eigene „Soundtrack of my Life“-Liste zusammen.

Etwa 125 Songs hatte ich in der engeren Auswahl und während des Schreibens – jeweils einen Text pro Tag, bevor ich ins Studio ging – kürzten wir unter großen Schmerzen alles zu 75 Songs zusammen, da ich auch nicht zu viel Raum unseres Buches beanspruchen wollte.

Die Reihenfolge der Musikstücke ist halbwegs chronologisch angeordnet und in keinster Weise wertend. All Killer, no Filler! Nur wenige Beiträge hatte ich „außer der Reihe” geschrieben und dann in die stetig wachsende Textdatei eingefügt, bis ich nach 75 Tagen den Hammer fallen lassen konnte.

Hier also die ursprüngliche Liste in unveränderter Form, mal sehr kurz, mal etwas länger – nur der Großteil der Illustrationen ist neu –, denn dafür war dann doch kein Platz mehr im Buch!

– schw

KISS – „Beth“ (16)

Als 12-Jähriger mit einem Faible für gefährliche Musik fand ich die Bravo-Storys über KISS immer Wahnsinn. Diese Masken-Make-ups! Diese irren Kostüme! Und Gene Simmons war mit seinem Axtbass, seiner langen Zunge und dem Feuer- und Blutgespucke definitiv der härteste Hund der Welt! Ein Schulfreund hatte eine Mini-Bravo von KISS – 16 oder 32 Seiten in Postkartengröße –, die ich mir immer und immer wieder ausgeborgt habe, weil ich mich an den Fotos nicht satt sehen konnte. Als ich dann das erste Mal tatsächlich einen KISS-Song HÖRTE, war ich wirklich tief enttäuscht. Das war ja Disco!

Okay, „I Was Made For Lovin’ You“ ist natürlich der untypischste Song der Band, aber eben auch ihr Welthit, ohne den viele (wie wahrscheinlich ich) nie etwas von KISS gehört hätten. Andererseits: Wegen ihres alten Logos, das mit zwei SS-Runen (???) daherkam, sorgten sie natürlich für Aufmerksamkeit, ihre Make-ups machten sie geheimnisvoll und ich verlor als Teen definitiv das Interesse, als sie sich unmaskiert präsentierten. Irgendwelche Rockvögel aus dem Glam-Zirkus.

Meine zweite KISS-Phase hatte ich Ende meiner Zwanziger. Da hörte ich mich durch ihr gesamtes Oeuvre, während ich unter Einfluss von Zigaretten und Alkohol in meinem Arbeitszimmer hockte und Comics zeichnete. So stupider Hardrock ohne nennenswerte Aussagen war ideal als Kulisse. KISS waren ja selbst Comichelden, mit eigenen Serien von Marvel und Image.

Als ich auf einer Goldparty meiner damaligen Auftraggeber neben Gene Simmons, der zusammen mit Paul Stanley Überraschungsgast der Sause war, am Pissbecken stand, war das irgendwie sehr ernüchternd. Man tauschte das übliche „How are you doing?“ – „Great! I love Germany!“ aus und ich versuchte, NICHT auf Genes Schwanz zu schielen, von dem er der Welt schon so viel Großes mitgeteilt hatte. Dabei stieß mir „Christine Sixteen“ sauer auf, da ich selbst Ziehvater einer Heranwachsenden war. „I don’t usually say things like this to girls your age / But when I saw you coming out of school that day (Christine sixteen) /That day I knew, I knew / I’ve got to have you, I’ve got to have you“ – Diesen Song schrieb 1977 ebenjener neben mir pinkelnde Gene Simmons für ihr 1977er Album „Love Gun“. Das heißt, damals war er 28, 29. Hm, das gehörte definitiv nicht in die Welt, die ich mir für meine Tochter wünschte.

KISS waren sowohl mein Eingang zur als auch mein Ausgang aus der Welt des Cockrock, wo Männer in einer Männerwelt damit pranzen, was für geile, immer bereite Hechte (ja, Aale läge näher) sie doch sind. Einfach die Größten und – um bei KISS zu bleiben – die Hottesten. Ach, die Reichsten natürlich auch – Simmons und Stanleys Gespür für Marketing und ihre „Alles muss raus!“-Mentalität will ich nicht unter den Teppich kehren.
„Beth“, meines Wissens der einzige Song, den Drummer Peter Criss für KISS geschrieben hat, liebe ich für sein untypisches Arrangement mit Streichern und so (Vorsicht, Ballade!) und für diese unglaublich naive Sicht auf die Welt, die Criss da beschreibt, wenn er „mit den Jungs“ die ganze Nacht spielen muss, um den richtigen Sound zu finden, und deshalb, Beth, leiderleiderleider einfach nicht nach Hause kommen kann. Der Job ist die Hölle!

Trio – „Oder doch (Wird so schlimm nicht sein)“ (17)

Unsere Clique traf sich eine Zeitlang „am Turm“. Der stand und steht im Schönbachpark, eingebettet in einen Sandkasten, in dem keine Kinder spielen. Wir Kids – also nur die ganz coolen – aus den vier Schulen des Einzugsgebietes trafen uns da, um erste Erfahrungen mit Alkohol, Zigaretten, Musik und dem (zumeist) anderen Geschlecht zu machen. Vertreter der deutschen Volkspolizei kamen auch regelmäßig zu Besuch, um uns klarzumachen, das wir auch hier am Turm nie wirklich mal für uns sein konnten. Aber meistens ließen sie uns gewähren.

Manchmal gab es Westbesuch, wenn einer von uns einen Cousin aus Wuppertal mitbrachte, der mit seinen Eltern ein paar Tage die Ostverwandschaft besuchen musste, um „echten Kaffee“, Seife und etwas Zivilisation in das Land der kommunistischen Barbarei zu bringen. Einer dieser Westcousins sah aus wie ein verwegener Matrose, das Nikki mit rot-weißen Querstreifen, die Jeans etwas hochgekrempelt, ein Ohrring und die Haare ein bisschen verwuschelt. Er sagte, er sein ein Punk und als Beweis hatte er ein Mixtape dabei. Die Neue Deutsche Welle war im vollen Gange und auf dem Tape war nicht ein einziges Punkstück, dafür aber jede Menge NDW-Songs von Ideal über Abwärts, Wirtschaftswunder, Der Plan oder DAF bis Trio. Bingo! Dann bin ich jetzt auch Punk!
Solche Mixtapes wurden eifrig kopiert und wenn jemand noch etwas anderes von einer der Bands hatte, wurde auch das kopiert. So kam man durch Tauschhandel und Eigeninitiative eigentlich an alles, was das Herz begehrte. Und mein Herz begehrte Trio: „Los Paul“, „Kummer“, „Halt mich fest ich werd verrückt“ oder eben gerade „Oder doch (Wird so schlimm nicht sein)“, von dem ich nur die Liveversion kannte (weil es nur die Liveversion gab, da der Text als zu anstößig für eine Plattenveröffentlichung galt), deren von Stephan Remmler gesprochener Mittelteil mich nachhaltig prägte:

„Wird so schlimm nicht sein? Ihr sagt das so! Mann, das war ein Scherz jetzt. Ich war gar nicht richtig tot. Aber ist das denn noch ein Scherz, wenn die einen am Verrecken sind und die anderen rufen „Wird so schlimm nicht sein?“ Ist das die Neue Deutsche Fröhlichkeit? Man sagt ja, wer zuletzt lacht, lacht am besten, ne? Man könnte auch sagen: Ganz zuletzt lacht überhaupt keiner mehr! Wie dem auch sei …“

Eagles – „Journey Of The Sorcerer“ (18)

Westfernsehen war ein wichtiger Faktor für meine Sozialisation. Mein Fenster in die Welt. Und in andere Welten, in die ganze Galaxis, ins gesamte Universum … naja, und den ganzen Rest. Wenn die ersten Töne des Eagles-Songs einsetzten, saß ich gebannt vor unserem Röhrenbildschirm und für eine halbe Stunde verschwand meine gewohnte, triste Alltagswelt. Ich tauchte ein in die absurdesten Abenteuer, die ich jemals gesehen hatte, mit verdreckten Raumschiffen, unglaublich hässlichen Außerirdischen, Handtüchern, sprechenden Mäusen und einem depressiven Roboter, der mir aus der Seele sprach.

„Per Anhalter durch die Galaxis“ war 1984 das wildeste und faszinierendste, das ich bis dato gesehen hatte, und es enthielt absolut alles, was ich liebte und und mit dem ich mich identifizieren konnte und wollte! Inklusive Disaster Area, der lautesten Rockband der Galaxis! Natürlich lag ich sofort meiner Omi in den Ohren, dass sie mir bittebittebittebitte (Bitte!) das Buch zur Serie aus dem Westen mitbringt, wenn sie das nächste Mal meine Urgroßeltern besuchen würde – und sie tat es, obwohl sie Angst hatte, damit ihre Reiseerlaubnis ernsthaft zu gefährden.

Ich las das – zugegebenermaßen ziemlich dünne – Buch noch in derselben Nacht in einem Rutsch in ihrem Schlafzimmer durch, während meine Omi im Wohnzimmer schlief. Als draußen die Sonne aufging, war ich ganz ruhig, glücklich, inspiriert und beseelt – und hungrig nach mehr, weil dieses erste Buch nur etwa drei der sechs TV-Folgen abdeckte. Der Besuch des Restaurants am Ende des Universums und damit die Begegnung mit Disaster Area und Hotblack Desiato wurden erst im zweiten Buch erzählt. Es war zum Haareraufen!

Damit begann eine Reise zu Orten, an denen ich irgendetwas Anhaltermäßiges oder alles von oder über Douglas Adams auftreiben konnte – meine eigene „Journey Of The Sorcerer“. Nach dem Mauerfall war eine meiner ersten Anlaufstationen in Westberlin der Laden von Zweitausendeins, weil die exklusiv die neue Anhalter-Fortsetzung hatten. „Die letzten ihrer Art“, „Raumschiff Titanic“, „Der lange dunkle Fünfuhrtee der Seele“, „Doctor Who – Der Piratenplanet“, „The Meaning of Liff“, „Lachs im Zweifel“ … Jahaaa, ich bin ein Nerd, aber don’t panic, es ist wunderbar!

Madness – „Tomorrow’s (Just Another Day)”/„Grey Day“ (19)

Auf meinen Nachhauseweg von der Schule wurde ich mal von einem Volkspolizisten angehalten. Er musterte mich und meine Jeanskutte von oben bis unten und schenkte meinen selbstgemachten Ansteckern und Aufnähern große Beachtung. AC/DC und Trio kannte er wohl schon, doch er blieb an einem schwarz lackierten Bierdeckelverschluss hängen, auf den ich mit dunkelrotem Klarlack „Tomorrow’s just another Day“ geschrieben hatte. Er zeigte ganz nah auf den Badge und schaute mich eindringlich an: „Und was soll das hier heißen?“ „Äh … „Morgen ist auch wieder ein Tag.“ Glaub ich.“ „Aaaha! Hm. Na, wenn du meinst.“ Mit ausladender Geste bedeutete er mir, das ich nun weitergehen durfte. Von Madness und deren Songs hatte er offensichtlich keine Ahnung.

„Trying hard, I thought I’d done my best
All my life, I can’t get no rest
Some who’ve closed the door before
Say I can’t carry on no more“

Diese Begegnung war an der Thiem-Ecke Naunhoferstraße, einen Steinwurf entfernt von einem unserer damaligen Cliquentreffpunkte an einer Parkbank, die durch ein paar Büsche gut von der Straße abgeschirmt war, sodass wir dort unsere relative Ruhe vor dem sozialistischen Alltagstrott hatten. Da saß ich manchmal ganz alleine auf der Banklehne und wartete, ob vielleicht doch noch irgendjemand zum Quatschen vorbeikommen würde. Und während ein frühsommerlicher Regen niederrieselte, dachte ich, heute sei wohl wieder so ein Tag, an dem ich besonders melancholisch bin.

„In the morning I awake
My arms, my legs, my body aches
The sky outside is wet and grey
So begins another weary day
So begins another weary day“

Dass meine Stimmung tatsächlich eher auf meine klinische Depression zurückzuführen war, wusste ich damals noch nicht, weil ich noch nichts von meiner klinischen Depression wusste. Ich wusste nur, dass ich mich weniger leer und verloren fühlte, wenn ich den Liedern von Madness lauschte. Die hatten in ihrer Traurigkeit immer etwas Tröstliches. Sie fühlten sich warm an und ich fühlte mich in ihnen geborgen. Wenigstens für drei Minuten 30. Und das ist doch schon was.

Ennio Morricone – „Once Upon A Time In The West, 17 – L’Uomo Dell’Armonica“ (20)

Als ich das erste Mal „Spiel mir das Lied vom Tod“ in unserem Stötteritzer „Palast“-Kino sah, hat es mich weggeblasen. Bis dato bestand meine Westernwelt aus den beiden Sprücheklopf-Haudraufs Bud Spencer und Terence Hill, den sozialistischen Superindianern Chingachgook, Ulzana, Tecumseh und Osceola – die immer und alle von Gojko Mitić verkörpert wurden –, und ein bisschen John Wayne im Westfernsehen, den ich ganz schlimm fand. Western guckten sich immer irgendwie so weg. Western gehörten zu Weihnachten mit Lebkuchen, kandierten Erdnüssen und Schokoladenmenschen in Alufolie. Nicht so „Spiel mir das Lied vom Tod“! Allein die 20-minütige Eingangssequenz saugte mich in die Handlung. Alles war superlangsam, unheilvoll, bedrohlich. Gesichter, Augen, Details. Und plötzlich – Bämm! Bämm! Bämm! Bämm! – explodierte alles in einem Ausbruch von Gewalt. Sorgsam eingeführte vermeintliche Handlungsträger lagen jetzt tot im Staub und ich musste mich erstmal neu sortieren. Die Musik half mir dabei. Die Musik war Teil der Handlung, Teil der Erzählung. Alle Hauptfiguren hatten ihr eigenes Thema: Mundharmonika, Cheyenne, Henry Fonda als eiskalter Kindesmörder Frank und die göttliche Cardinale, bittersüß. Ein Soundtrack für die Ewigkeit.

Regisseur Sergio Leone war ein König des Erzählens. Und er war schlau genug, sich einen Könner wie Morricone an seine Seite zu holen. Klassiker wie die Dollar-Trilogie mit Clint Eastwood wären ohne Morricones Musik für mich gar nicht denkbar. Und denke ich mal an so einen Film, hab ich sofort einen zuverlässigen Ohrwurm, der mich durch den Tag trägt: Alles ist dramatisch, alles ist emotional aufgeladen, alles hat Bedeutung.

Die Ramones verwendeten das Thema von „The Good, The Bad & The Ugly“ bei ihren Shows als Intro und man fieberte nervös dem Ende dieses Liedes entgegen, denn wie bei „Spiel mir das Lied vom Tod“ spürte man: Wenn diese Melodie verklingt, macht es plötzlich Bämm! Bämm! Bämm! Bämm! „One! Two! Three! Four!“ Mit „Durango 95“ explodierte alles in einem erlösenden Ausbruch von (Pogo-)Gewalt.