INTERVIEW Soulstrip und #nichtgesellschaftsfähig (2020)

von Sandra Strauß

Sandra: Eine Vielzahl der Illustrationen und Grafiken in dem Buch „Nicht gesellschaftsfähig – Alltag mit psychischen Belastungen” stammen unter anderem aus deinen eigenen Werken wie deinen Graphic Novels „Gevatter“ und „SEELENFRESSER“, deinen „Soulstrip“-Ausstellungen, deinen Animationsfilmen wie „Leipzig von oben“ oder es sind Karikaturen und Comics wie bspw. Schweinevogel von dir. Warum widmest du dich in deinen Arbeiten so oft tiefen Themen wie psychischen Belastungen, Angst, Depression, Suizid, Alkoholsucht, Vergewaltigung, Tod und Trauer, Gewalt und Krieg?

schw: Das sind alles Themen, die mich umtreiben, weil sie entweder zu meinem Leben gehören wie die psychischen Belastungen mitsamt Angstneurose, klinischer Depression und dem – momentan überwundenen – Alkohol oder weil sie mich seit Kindheit und Jugend nicht mehr loslassen: Gewalt ausüben, Gewalt erfahren, Leben nehmen, sinnloses Morden … Wenn ich mich durch meine Arbeiten schon nicht von all dem freimachen kann, so kann ich doch wenigstens meine Gefühlswelt dazu aufs Papier bringen und dadurch irgendwie besser damit klarkommen.

Sandra: Neben der „Stadt der Sterblichen“ der FUNUS Stiftung und der dabei stattgefundenen „Talkshow des Todes“ im September 2019 in Leipzig als Mit-Auslöser ist „Gevatter“ die Grundlage und quasi der Ursprung für dieses Buch. 

Frage Nr. 1: Worum geht es in deiner autobiografischen, realistisch gezeichneten S/W-Graphic Novel „Gevatter“?

schw: Im Großen und Ganzen dreht sich „Gevatter“ um meine Depression und meine Angstneurose, um meine Angst vor und meinen Umgang mit dem Tod und wie ich mich und meine Zustände und dieses Sein für mich selbst von Kindesbeinen an erlebt habe und immer noch erlebe.

Um das alles nicht zu dicht an mich ranzulassen,  so neutral wie möglich erzählen zu können  und um meinen Mitmenschen ihre Privatsphäre zu lassen, habe ich dabei alle handelnden Personen umbenannt oder verfremdet.

Frage Nr. 2: Wie gehören für dich „Gevatter“ und #nichtgesellschaftsfähig zusammen?

schw: Eigentlich war „Gevatter“ nur der Auslöser, um – für uns vollkommen folgerichtig – auch #nichtgesellschaftsfähig auf den Weg zu bringen. Im Moment dieses Interviews ist ja beides noch in Arbeit, doch während ich „Gevatter“ allein schreibe und zeichne und mich deshalb da auch irgendwie alleine durchwurschteln muss, ist #nichtgesellschaftsfähig unsere gemeinsame Arbeit, wo ich mit mehr Abstand reingehen kann und weniger Sorge habe, darin unterzugehen. #nichtgesellschaftsfähig können wir für mein Gefühl besser einkreisen, verdichten und für die Leserschaft aufbereiten. Bei „Gevatter“ fische ich manchmal ziemlich im Trüben, komme nicht weiter oder falle in die Zweifelhölle, weil ich darin das mache, was bei #nichtgesellschaftsfähig vor allem unsere Autor:innen schultern: Die eigene Geschichte oder einen Teil davon irgendwie auf ein paar Seiten herunterbrechen und hoffen, dass die Leser:innen den Kern der Sache annehmen, verstehen und bestenfalls für sich nutzen können.

Sandra: Fühlst du dich selbst „nicht gesellschaftsfähig“? Und wenn ja, wie?

schw: Ja, der Titel passt für mich wie Arsch auf Eimer. Die introvertierte Seite von mir fühlt sich meistenteils ziemlich falsch auf diesem Planeten oder zumindest in der mich umgebenden Außenwelt. Doch was ich früher – vor allem in meinen Teeniejahren – oft als belastend und deprimierend empfand, weil ich nicht verstand, dass ich in einem anderen Takt lief als die Leute um mich herum – und dass das überhaupt nicht schlimm ist –, ist heute eher einer Akzeptanz gewichen. Ich weiß inzwischen halbwegs, wo ich nicht dabei sein muss und was mir an Input gut tut und was nicht. „Besser keine Gesellschaft als in schlechter Gesellschaft.“ Damit bin ich oft sehr gut gefahren.

Sandra: Unter welchen psychischen Belastungen „leidest“ du? Bzw. anders gefragt und ausgedrückt: Welche psychischen Belastungen sind Teil deines Lebens, Erlebens und Fühlens?

schw: Wie schon erwähnt, lebe ich mit einer Depression, seit ich mich zurückerinnern kann. Das Angstvolle, Hypochondrische, Panische und Zwanghafte schwang dabei auch schon immer mit, durch einen fehlgeschlagenenen LSD-Trip ist daraus eine handfeste Angstneurose geworden, die ich fast zwei Jahrzehnte vor sich hin neurotisieren ließ, bis der Leidensdruck mich doch endlich mal auf den Sessel eines befreundeten Psychotherapeuten gezwungen hat. Was das Beste war, was mir passieren konnte.

Sandra: In deinem Film „Leipzig von oben“ geht es um die Krebs-Krankheit deines Vaters, der während des Drehbuchschreibens und der Filmproduktion verstirbt. Warum war es für dich wichtig, genau das zu thematisieren und in einen Film zu verpacken?

schw: Nachdem ich das „Go“ von meinem Vater dafür hatte, konnte ich mich so mit seinem Sterben auseinandersetzen, was ich bis heute als ein großes Privileg empfinde. Ich habe mich nicht mehr so ohnmächtig gefühlt angesichts seines drohenden und unaufhaltsamen Todes und ich konnte gleichzeitig das Leiden unserer Schicksalsgemeinschaft mitsamt Familie und Freunden in eine weitergefasste Perspektive setzen, indem es in „Leipzig von oben“ ja auch um die 1000-jährige Geschichte meiner Heimatstadt geht und um all die Menschen, die hier schon vorher gelebt haben und gestorben sind. Das hat sich beim Machen des Films sehr natürlich und okay angefühlt.

Sandra: Warum ist es deines Erachtens wichtig, „abseitige“ und Tabu-Themen wie Tod, Trauer, Leid, Schmerz und psychische Belastungen zu entstigmatisieren und stärker in das Bewusstsein der Öffentlichkeit und unserer Gesellschaft zu rücken?

schw: Ein Großteil der Dinge, die unserem Leben einen wirklichen Wert verleihen, sind in unserer Gesellschaft an die äußersten Ränder gedrängt worden. Ob das bewusst geschehen ist oder ob das als Kollateralschaden beim Aufbau unserer Konsumgesellschaft entstand, weil die Generation meiner Großeltern das Trauma des Nazi-Regimes und das des Zweiten Weltkrieges vergessen oder verdrängen wollte, mag ich nicht beurteilen. Was ich jedoch sehe, ist das Ergebnis: Viele Leute sind mit plötzlichen Lebenskrisen, mit psychischen und physischen Krankheiten oder dem Tod eines Familienmitgliedes vollkommen überfordert – und da hilft dann auch kein neues Auto mehr, kein Friseurbesuch und kein Kurzurlaub.

Die Zeit, als der Tod meines Vaters schließlich greibar war, war zwar schmerzvoll für alle Beteiligten, aber gleichzeitig schalteten auch alle in einen anderen Modus: Vieles, worum man vorher trefflich streiten konnte, war mit einem Mal egal und der ganze, monatelange Sterbeprozess fühlte sich irgendwie vertraut und natürlich an. Das hatte ich auch mit meiner Großmutter erlebt, als sie von ihrem Hirntumor gelähmt gänzlich auf fremde Hilfe angewiesen war. Sie windeln zu dürfen, fühlte sich realer an als jeder Konzertbesuch in meinem bisherigen Leben. Da war echte Interaktion, echtes Fühlen, echtes Erleben.

Als Angstpatient weiß ich natürlich, wie entsetzlich Ängste wirken, doch sie gesamtgesellschaftlich zu überwinden, um mit ein paar dieser gesellschaftlichen Tabus zu brechen, halte ich für dringend erforderlich, wenn wir unsere Lebensqualität tatsächlich nachhaltig steigern wollen. 

Sandra: Worum geht es in deiner Graphic Novel „SEELENFRESSER“?

schw: Puh, wenn ich das nur wüsste … Ursprünglich wollte ich eine ganz normale B-Movie-Horrorstory machen, die ein wenig wie „Der Blob“ angelegt war: Unbekannte Materie trifft auf die Erde und ändert die Bedingungen am Ort ihrer Ankunft. Als ich dann die Story schrieb, merkte ich, dass ich mich immer mehr für die Vitas der einzelnen Protagonist:innen interessierte, weil ich sie nicht so platt anlegen wollte, wie das bei solchen Themen oftmals der Fall ist, wenn man eher actionbetont erzählen will. Die Hauptprotagonistin Nova lebt in einer unglücklichen Beziehung mit ihrem trinkenden und gewalttätigen Mann Hardy, der sie vor ein paar Jahren als Trucker aufgelesen hat, als sie vor ihrem alten Leben geflohen ist … soweit die Geschichte, wie man sie in jedem zweiten Horror- oder Thrillerfilm kennt. Ich wollte wissen, warum sie von zu Hause abgehauen ist. Und bei Hardys Alkoholproblemen brauchte ich nur meine eigenen Trinkerzustände abzurufen – ausschließlich böse oder schlecht ist so ein Mensch ja auch nicht. Dann wäre da noch die Gruppe Obdachloser um Peter, Klausi und Panzermeyer, von denen auch jeder seine Geschichte mit sich herumschleppt: Traumata, Schicksalsschläge, Belastungen … Das alles habe ich weiter fest mit dem Plot mit der fremdartigen Materie verbunden, denn diese Materie absorbiert nicht nur Biomasse, sondern sie nimmt auch die Eigenheiten der Opfer, die Seelen in sich auf. Sie lernt und sie wächst und die Protagonist:innen lernen und wachsen mit ihr …

Sandra: Begleitend zur „SEELENFRESSER“-Produktion habt ihr verschiedene „SEELENFRESSER-Soulstrip“-Ausstellungen durchgeführt, deren Vielzahl der Bilder auch in diesem Buch zu sehen sind. Wie sind diese Bilder inhaltlich entstanden? Und welchen Bezug siehst du zu #nichtgesellschaftsfähig?

schw: Mit „SEELENFRESSER“ hatte ich so einen ersten Spalt einer Tür geöffnet, die seitdem immer weiter aufgegangen ist. Vorher hatte ich mich nie wirklich so bewusst mit … äh … eher abseitigen Themen auseinandergesetzt. Zwar hatte ich einige Horrorstories geschrieben und gezeichnet, aber so richtig durchgeschlagen hat es bei mir erst, als ich begriffen habe, dass ich schon etwas von mir selbst preisgeben muss, damit sich die Geschichten echt anfühlen. Das hatte ich bisher nur bei „Schweinevogel“ gemacht – und da natürlich eher cartoony, zynisch, satirisch und mit großen Kulleraugen. Da war immer noch Distanz dazwischen, die jetzt nicht mehr existiert.

Seit die Büchse der Pandora schließlich offen steht, kommt da jede Menge Zeug raus, was ich im Laufe der Zeit für Leinwände, Malwände, Zeichnungen, Filme und wasweißich verwendet habe und weiterhin verwende.

Der Bezug zu #nichtgesellschaftsfähig sind dabei meine zugrundeliegenden Belastungen, die ich in den ganzen Arbeiten immer wieder thematisiere, variiere oder auch mal umdeute.

Sandra: Was war für dich der Antrieb und deine Intuition, #nichtgesellschaftsfähig zu machen?

schw: Wie bereits vorher erwähnt, war #nichtgesellschaftsfähig einfach der nächste logische Schritt nach „Gevatter“. Aus unseren letzten Filmen sind auch immer gleich noch ein paar Bücher geworden, weil die Themen niemals aufhören und sich alles ineinander fügt. Für „Gevatter“ hatten wir redaktionell bereits begonnen, Interviews zu Angst, Tod und Depression zu veröffentlichen – da lag #nichtgesellschaftsfähig praktisch auf der Straße und wir brauchten es nur noch aufzuheben, zu hegen und zu pflegen …

Sandra: Wird es auch zu #nichtgesellschaftsfähig wieder Workshops und Fortbildungen geben? Und wenn ja, wie und in welcher Art?

schw: Im Moment dieses Interviews befinden wir uns noch mitten in der Corona-Zeit mit vielen Einschränkungen im sozialen Miteinander und aus dem Kaffeesatz lesen kann ich leider nicht. Angedacht jedoch sind Workshops, weiterführende Events und Aktionen auf jeden Fall, weil wir als Glücklicher Montag unsere Arbeit auch so verstehen. Zum Beispiel bauen wir uns gerade Möglichkeiten für Webinare und Workshops via Internet auf, da unsere Erfahrungen der letzten Monate mit Videochats und den vielen weiteren Alternativen zu physischen Treffen durchweg positiv und zielorientiert waren und sind. Und nur einfach ein Buch zu machen, um es dann ins Regal zu stellen, ist uns auch hier ein bisschen wenig. Wir wollen damit arbeiten und auch andere Menschen und Institutionen anregen, ebenfalls damit zu arbeiten, weil wir glauben, dass #nichtgesellschaftsfähig wichtige Inhalte mit neuen Ansätzen und vielen Perspektiven vermittelt und damit ein gutes Werkzeug sein kann, um es beim Abbau von Tabus, bei der Entstigmatisierung psychischer Belastungen und beim Verstehen innerer Vorgänge deines Gegenübers verwenden zu können.

Dieses Interview entstand für das Buch „Nicht gesellschaftsfähig – Alltag mit psychischen Belastungen”, Hrsg. Sandra Strauß und Schwarwel, Glücklicher Montag 2020